Kaninchengebisse gehören zu den spezialisiertesten Gebissen im ganzen Tierreich. Im Laufe der Evolution hat sich ein Gebiss entwickelt, das hervorragend dafür geeignet ist, große Mengen blättriger Kost zu zerkleinern.

Folge dieser Spezialisierung ist es aber, dass Kaninchengebisse so anfällig für Erkrankungen sind, wenn etwas anderes als blättrige Kost gefüttert wird.

Anatomie und Physiologie

Kaninchen haben im Oberkiefer auf jeder Seite sechs Backenzähne, einen Schneidezahn und einen hinter dem Schneidezahn liegenden kleinen Stiftzahn. Im Unterkiefer gibt es auf jeder Seite einen Schneidezahn und fünf Backenzähne. Bezeichnet werden die Zähne meistens mit Buchstaben und Ziffern.

Die Zähne sind mit Zahnhaltefasern und Zement relativ flexibel am Kieferknochen befestigt, denn Kaninchenzähne wachsen lebenslang. Beim Kauvorgang reiben sich die Zähne aneinander ab, sodass ständig neues Zahnmaterial nachgebildet werden muss. Neues Zahnmaterial wird in der Zahnwurzel gebildet, deshalb haben Kaninchen im Gegensatz zu Hund, Katze oder Mensch keine geschlossene, sondern eine offene Zahnwurzel. Eine Kaninchenzahnwurzel, Pulpa, produziert pro Monat etwa 1 cm Zahnmaterial. Dieses Zahnmaterial besteht im Inneren des Zahns aus Dentin, rundherum, außer auf der Kaufläche, werden die Zähne von extrem hartem Schmelz umhüllt. Die Kaufläche der Zähne besteht in der Mitte aus dem etwas weicheren Dentin und am Rand aus hartem Schmelz. Die Backenzähne haben jeweils zwei solche „Zahnsäulen“ die im Inneren aus  Dentin und außen aus Schmelz bestehen.

Kaninchen bewegen beim Kauen ihren Unterkiefer waagerecht von rechts nach links und zurück, dabei reiben sich Oberkiefer- und Unterkieferzähne aneinander ab. So entsteht so ein scharfes, zackiges Oberflächenprofil der Zähne, denn Bereiche mit hartem Schmelz werden langsamer abgerieben als Bereiche mit weicherem Dentin. Dieses scharfe und zackige Profil der Backenzähne von Ober- und Unterkiefer passt haargenau ineinander und das Futter wird durch diese Zahnform zwischen den Zähnen effektiv zerschnitten.

Der gesamte Kauapparat ist so konstruiert, dass ein Kaninchen unzählige Kaubewegungen in horizontaler Ebene ausführen kann. Kieferknochen, Befestigung der Zähne am Knochen, Kiefergelenk, die ständige Neuproduktion von Zahnmaterial in der Zahnwurzel sind darauf ausgelegt, dass ein Kaninchen mit horizontalen Kaubewegungen große Mengen blättriger Kost zerschneiden kann.

Pathophysiologie

Auf vertikale Belastungen ist der Kauapparat von Kaninchen dagegen nicht ausgelegt. Da die Zähne ununterbrochen nachwachsen, sind sie nicht fest am Kieferknochen verankert. Vertikaler Druck, der von oben auf die Zähne ausgeübt wird, wird daher bis in die Zahnwurzel übertragen. Die Zahnwurzel besteht aus extrem empfindlichem Gewebe. Je größer der Druck, der auf dieses Gewebe ausgeübt wird, und je häufiger Druck ausgeübt wird, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Zahnwurzel Schaden nimmt. Es kommt zu Reizungen und Entzündungen im Zahnwurzelbereich.  Diese Entzündungen sind die Ursache für die meisten Zahnprobleme beim Kaninchen.  Anfangs tun Entzündungen am Anfang „nur“ etwas weh, führen aber dennoch dazu, dass das Kaninchen beim Kauen nicht mehr alle Zähne gleichmäßig belastet. Es kommt zum Überwuchs einzelner Bereiche, die ausgeklügelte Architektur der Zähne verändert sich, das führt zu schädlichen Druckverhältnissen, die wiederum zu einer Reizung weiterer Zahnwurzeln beitragen. Ein Teufelskreis hat begonnen. Die Entzündung der Zahnwurzeln setzt sich im umliegenden Gewebe fort. Der Zahnhalteapparat und der Kieferknochen werden angegriffen, Zähne verlagern sich „rückwärts“ in den Kieferknochen hinein und können den Kieferknochen, der an diesen Stellen sehr dünn ist, sogar durchbrechen. Die Entzündungen greifen auf weitere Zähne über. Abszesse können entstehen.

Entscheidend für die Zahngesundheit von Kaninchen ist es daher, die empfindlichen Zahnwurzeln vor Druckbelastungen von oben bzw. unten zu schützen.


Ein Blatt wird von den scharfen Zacken der Backenzähne mit horizontalen Kaubewegungen zerschnitten.
Nicht blättriges Futter muss mit vertikalen Beißbewegungen zerquetscht werden. Dabei entstehen – vor allem bei hartem Futter – schädliche Druckbelastungen im Bereich der Zahnwurzel

Zerkleinert ein Kaninchen mit den physiologischen horizontalen rechts-links-Bewegungen weiches, blättriges Futter zwischen seinen Zähnen, kommt es zu keiner Druckbelastung im Zahnwurzelbereich. Je härter und je weniger blättrig das Futter ist, desto mehr muss ein Kaninchen beim Zerkleinern zubeißen. Durch dieses Beißen entstehen vertikale Kräfte, die bis zur Zahnwurzel gelangen und diese schädigen können.

Vor allem harte Futtermittel, sind eine Gefahr für die Gesundheit der Zahnwurzeln. Dazu gehören Pellets, Getreidekörner, Maiskörner, Johnannisbrotbaumstücke etc.  Aber auch Futtermittel wie Gemüse (Karotten, Pastinaken, rote Beete, Brokkoli…), die zwar weniger hart sind, aber trotzdem zunächst nicht mit rechts-links-Bewegungen zerschnitten werden können, führen zu einer höheren Druckbelastung im Wurzelbereich als blättriges Futter. Selbst das Kauen von Heu führt zu mehr Belastung der Zahnwurzeln als das Fressen von frischer Wiese.

Zu einer Belastung der Zahnwurzeln kommt es auch, wenn ein Kaninchen zu wenig kaut, weil das Futter z.B.  schnell satt macht. Wenn die Zähne nicht durch ausreichend viele Kaubewegungen am Gegenzahn abgerieben werden, führt das dazu, dass sie zu lang werden und dadurch bei jedem Kauvorgang erhöhter Druck in Richtung Zahnwurzel entsteht. Dieser Druck schädigt die Zahnwurzel, kann den Zahn zu tief in den Kiefer schieben (retrograde Verlängerung) und kann zu Verbiegungen des Zahns führen.

Die richtige Fütterung ist daher der Schlüssel für gesunde Zähne. Ideal ist die Fütterung von frischem, blättrigem Grün – im Sommer Wiese, im Winter blättriges Gemüse (Blattkohl, Salate, Kräuter, Gemüsegrün). Harte Futtermittel wie Pellets o.ä., die gebissen werden müssen, sollten überhaupt nicht gefüttert werden.  Weichere Futtermittel, die gebissen werden müssen, sollten nur in kleinen Mengen gefüttert werden.

Anders als die Backenzähne sind die Schneidezähne von Kaninchen fürs Zubeißen gemacht. Die Zahnwurzeln der Schneidezähne sind so gelagert, dass sie keinen Schaden nehmen, wenn Kaninchen etwas annagen oder abbeißen.

Früherkennung

Als Beutetiere verstecken Kaninchen Symptome wie Schmerzen sehr gut. Oft werden Kaninchen mit Zahnproblemen erst dann auffällig, wenn das ganz Gebiss schon unheilbar zerstört ist. Entscheidend ist daher, Zahnprobleme beim Kaninchen frühzeitig zu erkennen. In einem frühen Stadium kann eine Heilung noch möglich sein. 

Zur Früherkennung von Zahnproblemen sollten Kaninchen jeden Tag beim Fressen beobachtet werden: Kaugeschwindigkeit, Kaubewegungen, Appetit, Futterauswahl, sollten sich hier Veränderungen oder Auffälligkeiten ergeben, sollte man das Kaninchen einem kaninchenzahnkundigen Tierarzt vorstellen.

Einmal pro Woche sollten Kaninchen gewogen werden: Gewichtsabnahme ist ein Symptom vieler Erkrankungen, sie kann auch auf Zahnprobleme hinweisen. Bei der wöchentlichen Untersuchung sollte außerdem der Kieferknochen abgetastet werden. Gibt es schmerzhafte Stellen? Hat sich etwas im Vergleich zur Vorwoche verändert?

 Außerdem ist die wöchentliche Kontrolle der Schneidezähne sehr wichtig.

Schneidezahnkontrolle von vorne:

  • Die Kaufläche muss ganz gerade sein, schon kleine Abweichungen sind ernst zu nehmen.
  • Es dürfen keine Querrillen vorhanden sein, Längsrillen sind normal.
  • Die Zähne sollen glatt und glänzend sein.
  • Verfärbungen einzelner Schneidezähne sind nicht normal, gleichmäßig bräunliche Beläge durch Pflanzenfarbstoffe dagegen sind physiologisch.

 Schneidezahnkontrolle von der Seite:

Durch Backenzahnprobleme und Zahnüberwuchs im Backenzahnbereich schiebt sich der Unterkiefer meist etwas nach vorne. Im Extremfall kann sich der Unterkiefer so weit nach vorne schieben, dass die Schneidezähne aneinander vorbei wachsen. Bei solchen Tieren liegen in der Regel weit fortgeschrittene Backenzahnwurzelerkrankungen vor.  Diese Verlagerung des Unterkiefers kann man aber schon sehr frühzeitig erkennen und zur Früherkennung von Zahnerkrankungen nutzen. Dazu kontrolliert man die Schneidezähne regelmäßig von der Seite.

  • Der untere Schneidezahn muss hinter dem oberen Schneidezahn liegen.
  • Die Kaufläche des Stiftzahnes, der hinter dem Oberkieferschneidezahn liegt, sollte ungefähr in einer Ebene mit dem Gaumen und gerade sein. Sieht der Stiftzahn von der Seite aus wie ein Dreieck, dann kann eine Vorverlagerung des Unterkiefers die Ursache dafür sein.
Physiologisch:
Der untere Schneidezahn liegt hinter dem oberen Schneidezahn, der Stiftzahn hat eine gerade in den Gaumen übergehende Kaufläche.
Unphysiologisch:
Der untere Schneidezahn (blau) liegt nicht ganz hinter dem oberen Schneidezahn (grün).
Der Stiftzahn (rot) hat eine schräge Kaufläche.

Weitere Symptome, die auf Zahnprobleme hinweisen können, sind tränende Augen, einseitig hervorstehende Augen, Speicheln, Nasenausfluss.

Bei Auffälligkeiten beim wöchentlichen Zahncheck sollte ein Tierarzt aufgesucht werden, der sich gut mit Kaninchenzähnen auskennt.

Achtung: Auch wenn keine Auffälligkeiten und Symptome bestehen, können Zahnprobleme vorliegen, ein Ausschluss von Zahnproblemen ist nur durch bildgebende Diagnostik möglich!

Diagnostik

Der Großteil jedes Kaninchenzahnes mit der für die für die Zahngesundheit entscheidenden Zahnwurzel liegt im Kiefer verborgen. Der Teil der Zähne, den man in der Maulhöhle sieht, ist nur die Spitze des Eisbergs. Beim Blick ins Maul bleiben 80% aller Zahnbefunde unerkannt. Eine Untersuchung der Maulhöhle reicht daher niemals aus, um zu beurteilen, ob ein Kaninchengebiss gesund ist. Übrigens: Der Einsatz eines Kieferspreizers am wachen, nicht sedierten Kaninchen ist nicht lege artis und sollte unbedingt unterlassen werden!

Mit Röntgenaufnahmen kann man die Zahnwurzeln sichtbar machen. Da man beim Röntgen aus einem 3-dimensionalen Kaninchengebiss ein 2-dimensionales Bild macht, kommt es zwangsläufig zu störenden Überlagerungen einzelner Strukturen. Um ein Gebiss vollständig einschätzen zu können, braucht man daher Röntgenaufnahmen in mindestens 4 Ebenen und in der Regel weitere intraorale Aufnahmen. Erst mit diesem diagnostischen Aufwand ist es möglich, ein Kaninchengebiss genau zu beurteilen und die Ursache für Zahnprobleme zu finden. Für diese Röntgenuntersuchungen werden Kaninchen kurz sediert. Dadurch erhält man qualitativ bessere Bilder, intraorale Aufnahmen sind möglich, die Tiere werden nicht unnötig gestresst und der Strahlenschutz kann leichter umgesetzt werden.

Eine Möglichkeit überlagerungsfreie Bilder des Gebisses zu erhalten sind auch CT- oder DVT-Aufnahmen. Wichtig ist hier, dass die Geräte eine für Kaninchenzähne ausreichende und damit sehr hohe Auflösung haben und die Bilder fachkundig ausgewertet werden.

Therapie

Schmerzen im Zahnwurzelbereich führen in der Regel dazu, dass Kaninchen auf der betroffenen Stelle oder der ganzen Seite nicht mehr richtig kauen. Da die Zähne trotzdem wachsen, es aber zu weniger Zahnabrieb kommt, hat das zur Folge, dass die Zähne, wenn man in die Maulhöhle blickt teilweise zu lang sind, dass Spitzen entstehen, das Gebiss schief wird. Die schiefen Zähne mit Einschleifen einfach nur zu begradigen ist nicht zielführend, denn die Ursache für die Störung der Architektur im Maul liegt ja im Zahnwurzelbereich. Schleift man die Zähne nur ein, ändert man nichts an der Ursache und der oben beschriebene Teufelskreis wird nicht durchbrochen, stattdessen schreitet die Erkrankung im Kiefer immer weiter fort.

Welche Therapie sinnvoll ist, bzw. ob eine ursächliche Therapie möglich ist, ist individuell nach sachkundiger Auswertung von Röntgenbildern bzw. CT/DVT-Aufnahmen zu entscheiden. Zähne mit entzündeten Zahnwurzeln müssen in der Regel gezogen werden, um den weiteren Krankheitsfortschritt zu stoppen. Abszesse müssen operativ entfernt und die verursachenden Zähne gezogen werden. Eine aufwendige Wundversorgung, die sich oft über Wochen hinzieht, schließt sich an.

Ein Einschleifen des Gebisses in seinen korrekten anatomischen Zustand ist zusätzlich Teil der Therapie. Das Einschleifen ist ausschließlich in Sedation/Narkose möglich, denn dazu werden schnell rotierende diamantbeschichtete Schleifköpfe verwendet. Ein Einschleifen mit Handfeilen ist nicht ausreichend, um anatomisch korrekte Verhältnisse zu erreichen, ein Abknipsen der Zähne mit einer Zange o.ä. ist ein Kunstfehler, es schädigt die Zahnwurzeln.

Zusammenfassung

Das Kaninchengebiss ist darauf spezialisiert große Mengen frischen, blättrigen Futters mit horizontalen Kaubewegungen zwischen den Zähnen zu zerschneiden. Bei vertikalen Kaubewegungen und bei zu langen Zähnen kommt es zu Kraftwirkungen im Zahnwurzelbereich, die die Zahnwurzeln schädigen, vor allem wenn auf hartes Futter gebissen wird.  Frische blättrige Fütterung ist der entscheidende Faktor, um die Zähne gesund zu erhalten. Um Zahnerkrankungen frühzeitig zu erkennen, sollten Kaninchen täglich beim Fressen beobachtet und wöchentlich das Gewicht und die Schneidezähne kontrolliert werden. Zu lange, schiefe Schneidezähne, zu lange, schiefe Backenzähne, Überwuchs, Fehlstellungen, Backenzahnspitzen etc. haben ihre Ursache nahezu immer in Wurzelerkrankungen der Backenzähne. Eine frühe und genaue Diagnose von Zahnerkrankungen ist nötig. Sie ist ausschließlich mit sachkundigem Röntgen in mehreren Ebenen oder gutem CT/DVT möglich.

©Dr. med. vet. Diana Ruf

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